Liebe Eltern!
Nach der Coronapandemie sind Sie vielleicht weggezogen, in ein Dorf mit schnellem Internet, großem Garten, frischer Luft und erhaltener Natur. Sie wollten nun, kurz und übersichtlich, die wichtigsten Strategien „meiner Kindermedizin“ mitnehmen; ein dünnes Heft mit bewährten Tipps haben Sie sich vorgestellt oder etwas im Internet: praktisch erprobtes Wissen für junge Eltern statt unübersichtliche und widersprüchliche Information.
Wissenschaftlich ist „Erfahrungswissen“ eine zweifelhafte Informationsquelle. Ganze Generationen von Ärzt:innen haben sich grundlegend geirrt. Die niedrigste Sicherheitsstufe für eine Leitlinie bietet der „Expert:innenkonsens“. Es gilt also, das tägliche Handlungswissen nochmals auf den Prüfstand der aktuellen wissenschaftlichen Fakten zu stellen.
Den Eltern geht es nicht besser, sie werden überwältigt von aufregenden Informationen über Risiken, Nebenwirkungen und Alternativen. Gleichzeitig fehlen familiäre Erfahrungen mit Neugeborenen und Kleinkindern. Unser Gehirn sichtet Daten nicht rational und statistisch, sondern emotional, situativ eingebunden und beliebig. Die Illusion der eigenen Kompetenz betrifft nicht nur die Ärztin oder den Arzt, sondern auch die tüchtigen Eltern.
Präzise Studien mit klarer Fragestellung, bestenfalls verblindet mit Kontrollgruppe und statistisch sauber berechnet, ergeben den sicheren, allerdings kleinschrittigen Weg zur zuverlässigen Erkenntnis. Weil Kinderstudien nur selten gelingen und weil Kinderheilkunde nicht im Fokus der Wissenschaft steht, werden die meisten Neuigkeiten aus der Erwachsenenmedizin oft ungeprüft und Jahre später zu Kindern exportiert. Mit teilweise unvorhergesehenen Effekten und Nebenwirkungen, denn Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und reagieren auf neue Diagnostik, Therapie und Rehabilitation manchmal unerwartet anders. Viele alltägliche Therapien der Kinderheilkunde sind wissenschaftlich nicht gut untersucht. Hier können wir uns alle nur auf Erfahrung stützen, die Ärztin, der Arzt, das Kind und die Eltern. Lieber wären uns gute Studien.
Die Gesundheit der Kinder und ihrer Familien hängt ab von der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Realität. Nach der Globalisierung und der Welt als Dorf im Internet kamen Corona, der Ukrainekrieg – gleichbleibend drängend begleitet von der Klimakrise.
Weil die Kinderärzt:innen ausgehen, droht den Eltern mehr Eigenverantwortung. Wir wollen nicht hoffen, dass sich Eltern auf das kleine Heft verlassen müssen – eine gute Ärztin oder ein guter Arzt in erreichbarer Nähe sind vorzuziehen. Aber bis dahin sollte mein Heft – bei allen Einschränkungen – brauchbare Dienste leisten: das notwendige Wissen für den Erste-Hilfe-Kinderkoffer einer jungen Familie.
Dr. Wilfried Diener