Das schwerbehinderte Kind
Viele schwere Behinderungen bei Kindern werden im Neugeborenen- oder Säuglingsalter offensichtlich und sie haben oft genetische, vorgeburtliche oder frühgeburtliche Ursachen. Es handelt sich um ein dramatisches, lebensveränderndes Ereignis, eine Grenzsituation für die ganze Familie. Für die Eltern ist es wichtig, die Ursache der Behinderung oder chronischen Krankheit zu verstehen. Früher blieben fast 50 % der Behinderungen ursächlich unbekannt, heute sind es nur noch ca. 10 %. Unabhängig von der medizinischen Ursache gibt es eine individuelle, oft schuldbesetzte Ursachenzuschreibung durch Eltern oder Laienumfeld. Die Begleitung betroffener Familien misslingt ohne Kenntnis dieser oft unausgesprochenen Erklärungsmodelle.
Gut zwei Jahre kann eine Familie sich unablässig für ein schwer krankes Kind aufopfern. Die Kraft und Tapferkeit von Müttern und Vätern ist enorm. Ohne geeignete Unterstützung entwickelt sich aber oft ein Verbitterungsprozess hin zur Destruktion. Wir verdanken der Selbsthilfe und den Spezialkliniken präzises und zuverlässiges Wissen darüber, wie einer Familie das Leben mit einem Kind mit Behinderung oder chronischer Erkrankung gelingt: Einen Nachmittag brauchen die Eltern pro Woche frei für Sport oder Hobby, einen Abend pro Woche für die Beziehung, regelmäßige Zeiten für die Geschwisterkinder, keine vollständige Berufsaufgabe, einmal im Monat ein psychotherapeutisches Gespräch, um Verwundungen und Nöte abzuarbeiten. Initial werden Freundeskreis und Verwandtschaft offensiv besucht und informiert: „Wir haben ein behindertes Kind das wir sehr liebhaben, wir wollen das gut hinbekommen und wir bleiben in Kontakt.“ Das Umfeld würde sich ohne diese Informationen aus Unsicherheit meist zurückziehen, um nichts falsch zu machen.
Es wird ein Helfer:innenkreis gegründet. Chef sind die Eltern, Helfende wissen voneinander und werden informiert. Helfer:innenkreise finden immer mit den Eltern statt, niemals ohne. Helfende, die verlassen werden sollen oder müssen, werden positiv verabschiedet. Selbsthilfe kennt Therapeut:innen, Spezialambulanzen und Urlaubsmöglichkeiten; sie ist kein Jammerclub. Oft erfahren Eltern sogar gute Unterstützung bei der allfälligen Bürokratie.
Die finanziellen Unterstützungen sind in Deutschland katastrophal unübersichtlich und zersplittert: Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Sozialhilfeträger, Versorgungsamt, Finanzamt, kommunale Dienste, Dorfhelfer:innen, frühe Hilfen, sonderpädagogische Dienste usw. Die Anträge sind mühsam, die Schriftwechsel oft erbärmlich zynisch. Hier braucht es helfende Fachleute. Ungerechtfertigte Ablehnungen sind normal, Widersprüche oft nötig, nett sein hilft nicht: Man erstreitet hier sein Recht und bittet nicht um Almosen. Familien mit geringen Deutschkenntnissen sind ohne Fürsprecher:innen und Ghostwriter:innen chancenlos.