Erziehungsprobleme
Kinderärzt:innen haben die Aufgabe, Lebenssituation und Verhaltensweisen eines Kindes zu verstehen. Es geht erst in zweiter Linie um ein Verständnis für Eltern, Erzieher:innen oder Behörden. Kinderärzt:innen werden nicht Kumpan:in einer verschworenen Erwachsenenwelt. Das kann Verblüffung auslösen.
Das Kindeswohl führen alle im Mund, man will nur das Beste, oft, ohne das Kind überhaupt zu fragen. Besonders absurd sind Besprechungen sorgenvoller Behörden und Helfer:innen ohne Eltern und Kind mit nachfolgender Mitteilung von weitreichenden „Beschlüssen im Sinne des Kindes und der Eltern“. Bislang kann jedes Jugendamt unkontrolliert und ohne Regel für sich festlegen, was Kindeswohl oder Kindeswohlgefährdung bedeutet und welche Konsequenzen daraus gezogen werden dürfen.
Familien sind Systeme, die sich in aller Regel klug verhalten. Jede Persönlichkeit besetzt eine Nische, sucht ihren Platz, von außen nicht immer leicht verständlich. Die Familien wiederum spielen gesellschaftlich definierte Rollen, sind in ihrem Leben vor allem auch fremdbestimmt. Herkunft, Einkommen, Beruf, soziales Umfeld, Religion, Tradition und Kultur wirken entscheidend ein.
Jedes Kind erhält eine andere Erziehung, auch in einer Geschwisterreihe. Alle Kinder gleich zu erziehen, wäre fatal – die Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse und teilen diese ab Geburt implizit und explizit mit. Kinder vor der Pubertät übernehmen solidarisch die elterlichen Sichtweisen; bei getrennt lebenden Eltern die Sicht des gerade anwesenden Elternteils. Es handelt sich nicht um Verrat oder Opportunismus, vielmehr um eine wichtige Überlebensfunktion. Erst während der Pubertät stellt sich dem Kind die radikale Frage, was eigentlich diese Eltern für Menschen sind und was für ein Mensch es selbst sein oder werden will.
Pflegekräfte, Erzieher:innen und Pädagog:innen mit enger Bindung zu einem Kind können tatsächlich oder vermeintlich die besseren Eltern sein, müssen aber doch zurückstehen und die genetische und rechtliche Elternschaft anerkennen. Eltern, die nicht so gut begleiten, ergeben eine große Herausforderung.
Persönlichkeit und Hierarchie der Helfer:innen untereinander entscheiden die Sicht auf das Kind mit. Gerade eine Gruppe kann sich sehr irren. Eine externe Supervision erweist sich in Erziehungsfragen als wichtig. Die längerfristige Begleitung eines Kindes durch eine Therapeut:in oder Lehrkraft stellt tatsächlich einen psychotherapeutischen Vorgang dar. Es werden nicht nur Fähigkeiten oder Wissen vermittelt, sondern auch Einstellungen, Werte und persönliche Bewertungen. Übertragungsphänomene und Gegenübertragungen im Dialog mit den Kindern führen sowohl zu wichtigen Erkenntnissen als auch zu schwerwiegenden Zuschreibungsfehlern.
Fragt man aufmerksam kontrollierende Eltern, was sie in der Erziehung des nächsten Kindes besser machen wollen, so teilen sie mit, mehr kontrollieren und begleiten zu wollen, während gelassene Eltern feststellen, beim nächsten Versuch gelassener zu sein. Analog verhalten sich ausgebildete Pädagog:innen, es entwickelt sich über die Jahre eine „Radikalisierungstendenz“, die Erfahrung führt vor allem in eine Richtung. Deshalb sollten Gruppen von Erzieher:innen und Pädagog:innen heterogen sein und diese Widersprüchlichkeit aushalten.
Solange Eltern, Erzieher:innen und Kinder einigermaßen gesund sind und die Umstände „normal“, funktioniert Erziehung, eingebettet in den historischen Kontext, gut, die Kinder sind zufrieden mit ihren Eltern. Sind die Eltern krank, drogenabhängig, marginalisiert, traumatisiert oder sehr arm, entgleist der Prozess oft. Dasselbe gilt, falls Fachleute um das Kind überfordert, entwürdigt, radikalisiert oder unfähig sind. Selten kann ein Kind durch Krankheit, Behinderung oder extremes Verhalten eine starke Familie oder einen guten Helfer:innenkreis überfordern. Erziehungsprobleme in einer Familie, einem Kindergarten, einer Schule, einem Heim usw. werden meist dem Kind angelastet, oft aber geht es um die Erwachsenen.