Kopfschmerzen (Neurologie)
Eigentlich alle Erwachsenen und die größte Zahl der Kinder kennen Kopfschmerzen. Manchmal entstehen sie täglich, begleiten den ganzen Tag, sind unerträglich und man findet keinen Grund. Eine Kopfschmerzambulanz differenziert über 50 verschiedene Kopfschmerzformen, verwendet diverse Therapien und kann manchmal doch nicht helfen. Manche Eltern beschreiben die Kopfschmerzen ihres Kindes sehr genau, weil es auch die eigenen sind, teils in dritter Generation vererbt.
Migräne
Bei Migräne gelingt die Diagnose oft beim ersten Ambulanztermin: Das Kind wird nach einem anstrengenden Tag (Sport oder Schule) blass, klagt über Sehstörungen, will Dunkelheit, bekommt halbseitige, klopfende Kopfschmerzen und muss erbrechen. Ibuprofen hilft. Das Kind isst nicht, kein Handy oder TV, nur Bett und schlafen. Am nächsten Tag ist es wieder fit. Die Kinder sind meist tüchtig, gut in der Schule, neurologisch unauffällig, rasche Grundaktivität im EEG, manchmal einzelne funktionelle Spitzen und haben Eltern mit klassischer Migräne. Nach fünf Attacken gilt die Diagnose als sicher, man spricht über medikamentöse Möglichkeiten und dass weniger Leistung diese Kinder unglücklich macht. Manche Kinder hatten im Kleinkindalter heftige Bauchschmerzen (Nabelkoliken), plötzliche Schwindelzustände (paroxysmale Vertigo) oder unklare Fehlwahrnehmungen wie größer oder kleiner sehen und mit falschen Farben (Alice-im-Wunderland-Syndrom). Die Migräne sollte allenfalls ein- bis zweimal pro Monat auftreten, die Beschwerden sollten medikamentös gut zu behandeln sein, andernfalls wird Topiramat niedrig dosiert als anfallsvermeidende Prophylaxe vorgeschlagen. Da die Tabletten tagtäglich einzunehmen sind, wird die medikamentöse Prophylaxe von den Eltern und vom Kind meist abgelehnt. Die Migräneberatung warnt vor erhöhten Thromboserisiken bei Migräne und Verhütungsmitteln und dass Triptane erst nach der Aura eingenommen werden sollen. Hauptrisiko ist die Verwechslung der Migräneattacke mit Spannungskopfschmerzen, die sich gerne dazugesellen.
Die Beschreibung der kindlichen Migräne gelingt oft nicht so eindeutig. Oft fehlt anfangs die Aura, die Kopfschmerzen entstehen beidseits, sind eher drückend als klopfend, beginnen bereits morgens früh oder gar in der Nacht. Dazu mischen sich eindeutige Aspekte von Spannungskopfschmerzen: Ausruhen mit Musik und TV geht, viel trinken soll helfen, genau wie Osteopathie, Massage und Akupunktur. Plausible Gründe sind für die Familie oft Nahrungsmittelunverträglichkeiten, ausgerenkte Halswirbel, Mobbing, Scheidung, Unfälle. Und weil eine Migräne häufig im Anschluss an erschöpfende Situationen auftritt, ist die Zuschreibung öfters passend.
Der erlernte Spannungskopfschmerz
Schmerz wird gelernt und das Schmerzgedächtnis kann Kopfschmerz beliebig oft und zuletzt dauernd bereitstellen. Diese erlernte Schmerzwahrnehmung können wir durch intensive Ablenkung verlassen, denn unser Bewusstsein kann gleichzeitig nur einen Gedanken fassen. Wir tricksen den erlernten Kopfschmerz aus, indem wir Dinge tun, die Aufmerksamkeit und Denken völlig gefangen nehmen: Ballspiele, Tischtennis, Klettern, Tanzen, Musik machen, Holz hacken, schnelles Radfahren. Entgegen dem üblichen Verhalten sollen wir nicht entspannen, keine Musik hören, keine Medikamente einnehmen und nicht im Bett liegen. Wir führen keinen Kopfschmerzkalender und stellen uns keinen Schweregrad der Kopfschmerzen vor. Eltern fragen nicht mehr nach Kopfschmerzen, holen bei Klagen nicht gleich den Fiebersaft, keine Wasserflasche, keine Massage und keine Kügelchen – und das bitte wirklich vier Wochen durchhalten! Eine massive Kränkung, denn es scheint so, als würde Ärztin oder Arzt die Kopfschmerzen nicht ernst nehmen. Die zerstörerische Wucht von Schmerzsyndromen erleben tagtäglich über 5 % der Bevölkerung, Schmerz kann das Leben zerstören. Da sind vier Wochen keine Zeit. Falls danach das Beschwerdebild nicht drastisch besser wird (bei knapp 50 % meiner Patient:innen ist das so), folgt die konsequente organische Ursachensuche, denn hinter Spannungskopfschmerzen kann eigentlich alles stecken.
Organisch bedingte (Spannungs-)Kopfschmerzen
Die möglichen schlimmen Diagnosen hinter kindlichen Kopfschmerzen kennen die Eltern genau: Hirntumor, Hirndruck (gutartig, bösartig), Encephalitis (Hirnentzündung), Multiple Sklerose, Systemkrankheiten, Infektionen, Abszesse, Blutmangel, Gefäßveränderungen – die Liste endet nicht. Bei anhaltenden Kopfschmerzen trotz Ablenkestrategie erfolgt umfangreiche Diagnostik mit erneuter Anamnese, MRT, Labor, EEG und Augenärzt:in. Ängste bei Eltern und Kind werden erfragt, befürchtete Krankheiten konsequent ausgeschlossen. Bei weiteren 25 % der Familien mit einem Kopfschmerzkind ergibt die konsequente Diagnostik zwar keine fassbare organische Kopfschmerzursache, aber Linderung bzw. Heilung; die Spannungskopfschmerzen gehen danach bleibend zurück. Bei einem kleinen Teil der Kinder finden sich organische Gründe wie Zysten, Ventrikelerweiterungen, Gefäßbesonderheiten, Tumore und bei einem weiteren, größeren Teil ergeben sich fragliche MRT-Veränderungen, unklare Laborwerte, unklare EEG-Veränderungen, mögliche Psychopathologie. Gerade dann braucht es Erfahrung und im Einzelfall Expert:innen verschiedener Fachbereiche, andernfalls droht mehr Schaden als Nutzen durch die Diagnostik.
Das Schmerzsyndrom
Bleiben die Kopfschmerzen über sechs bis zwölf Monate bestehen, nehmen eventuell sogar an Intensität zu oder weitere Symptome erscheinen, meist Bauchschmerzen, dann vermutet man ein Schmerzsyndrom, das ambulant oft nicht zu stoppen ist. Eine Mischung aus immer unerträglicherem Schmerzerleben, depressivem Rückzug, sekundärem Krankheitsgewinn durch elterliche Zuwendung und Schulabsentismus, Abwertung Helfender mit individuellen Kausalketten. Die Anmeldung zur stationären Behandlung in einer Schmerzklinik erfolgt, denn ein unbehandeltes Schmerzsyndrom verfestigt sich. Bis dahin soll ein bewährtes Antidepressivum helfen und ambulante Psychotherapie; oft hilft beides nicht und der Gang in die Klinik wird schwer. Gut 50 % der Betroffenen verlassen aber eine Schmerzklinik grundlegend verbessert mit individuellen Strategien ausgerüstet und zufrieden.
Das behandlungsresistente Schmerzsyndrom
Wenn nichts hilft, weder ambulant noch stationär, hilft der Glaube. Wir betreten nun das Reich der Wunder. Eine Akupunkteurin trifft den alles entscheidenden Punkt, der Osteopath hat die letzte Blockade gelöst, eine wunderbare Reise, eine neue Freundin oder ein Freund, das Bett wurde verstellt, denn es stand auf einem Schlot, ein frühkindliches Trauma wurde aufgedeckt, ein Hund, ein Pferd, tatsächlich auch einmal eine Pilgerreise. Die Selbstheilungskräfte des Menschen vermögen Unmögliches über Nacht. Wer die Kraft und Konsequenz zum täglichen Kopfschmerz hat, der hat auch die Kraft, sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel zu befreien. Der Rest lebt und klagt. Manchmal trifft man sich nach Jahren erneut – wiederholt den Weg und manchmal findet man etwas, weil man etwas übersehen hatte oder es noch nicht zu erkennen war: Drogenprobleme, Psychosen, Missbrauch oder eine Erkrankung eines Elternteils. Hoffnung ist immer.
Die atypischen Kopfschmerzsyndrome
Manchmal sind die Kopfschmerzen weder Migräne, Spannungskopfschmerzen noch organisch bedingt, sondern selten und atypisch und Teil der langen Liste genetischer, familiärer oder gänzlich ungewöhnlicher Kopfschmerzkrankheiten. Heftige einschießende Gesichtsschmerzen, bohrende Hinterkopfbeschwerden, stechende Stirnkopfschmerzen, Augentränen, Gesichtsrötung usw. Manchmal hilft eine Neurologie mit Kopfschmerzschwerpunkt (z. B. die Neurologie in Essen).