Neurologie
Neurologische Diagnostik
Manchmal ist es wichtig, die ganze Geschichte eines neurologisch auffälligen Kindes zu kennen, also Schwangerschaft, Geburt, frühkindliche Entwicklung, Motorik, Sprache, Verhalten, Kindergarten und Schule. Hinzu kommen der Verlauf der neurologischen Krankheit(en) oder Beschwerden, die verschiedenen Therapien oder Medikamente und die jeweiligen Erfolge oder Misserfolge. Schließlich werden die Folgen der Erkrankung für Eltern und Geschwister erfragt und die Einstellungen von Kind, Eltern und Umfeld. Es bleibt die Frage nach den Hoffnungen und Wünschen, was anders und besser werden soll oder muss. In aller Regel gibt es noch einen Ordner mit alten Befunden. Es bewährt sich, eine Zusammenfassung an die Eltern zu senden mit der Bitte um Vervollständigung und Korrektur.
Die Untersuchung von Grobmotorik (Gehen, Stehen, Laufen, Haltung), Feinmotorik (Zielmotorik) und Visuomotorik (Auge-Hand-Koordination) gelingt sehr zuverlässig, d. h. reproduzierbar und sicher. Sprachbeurteilungen bei einer ambulanten Vorstellung sind dagegen fehlerhaft und orientierende Intelligenzbestimmungen sind zuverlässig falsch. Auch das Verhalten eines Kindes im ambulanten Rahmen kann ganz anders wirken als zu Hause oder in der Schule. Fremdbeurteilungen durch Eltern, Erzieher:innen und Lehrkräfte sagen oft mehr über Situation und Einstellungen der Erwachsenen als über die Verhaltensrealität des Kindes. Verhaltenszuschreibungen per umfangreichem Fragebogen verringern die Verzerrungen nicht.
Die Fachkrankenhäuser für die neurologische Frührehabilitation sind sich einig, dass eine Arbeitswoche und acht bis zehn Berufsgruppen nötig sind, um die Gesamtgesundheit eines komplex neurologisch erkrankten Kindes zuverlässig abzubilden, einschließlich Vorschlägen bezüglich Therapie und Rehabilitation, inklusive Hausbesuch für das notwendige Kontextverständnis. So weit, so unmöglich. Die Zwänge der Kliniken sind bekannt, die ambulante neurologische Betreuung mit dem Wunsch nach Qualität und Übersicht ergibt ein zeitintensives und doch oft unvollständiges Unterfangen.
Angeborene Störungen des Zentralnervensystems
Das Nervensystem entsteht aus einer Neuralrohranlage in der dritten und vierten Schwangerschaftswoche. Störungen in dieser frühen Entwicklungsphase führen zu grundlegenden Anlagestörungen des Gehirns. Ursachen sind Schwangerschaftskomplikationen, Folsäuremangel, Unterernährung, Medikamente (z. B. Valproat), Diabetes der Mutter oder genetische Störungen. Folgen sind Hydrocephalus (Wasserkopf), offener Rücken (Spina bifida), Zysten, Erweiterungen oder Defekte entlang des Gehirns und des Rückenmarks mit mehr oder weniger ausgeprägten Lähmungen und Funktionsstörungen. Manche der Veränderungen lassen sich früh kaum erkennen und führen zu Störungen von Blase, Darm und Motorik erst im Wachstumsverlauf. Bei erkennbaren Störungen, z. B. mit offenem Rücken, erfolgt die neurochirurgische Operation oft am ersten Lebenstag. Es folgen Jahre der neurochirurgischen, urologischen, orthopädischen, kinderneurologischen und gastroenterologischen Betreuung wegen Wasserkopf, Rückenmarksverwachsungen, Lähmungen und Blasen-Darm-Störungen. Danach folgen die komplizierten Abläufe und Entscheidungen in Schule und Beruf und die Begleitung der nicht immer einfachen Bewältigungsstrategien des Kindes oder Jugendlichen. Die Sterblichkeit des offenen Rückens ist auf unter 10 % gesunken, gut 50 % lernen, mit Hilfsmitteln zu gehen, und 70 % der Erwachsenen behalten keine Intelligenzminderung zurück, aber oft ist das kognitive Tempo etwas langsamer.
Pränatale Diagnostik mit präzisem Ultraschall führt zu schwierigen Fragen an die Eltern und an die behandelnden Ärzt:innen, die sich überlegen, welche gesellschaftliche Wertschätzung Rollstuhlfahrer:innen oder schwer bewegungsgestörte Menschen wohl erfahren.
Störungen der Nervenzellwanderung (Migrationsstörungen)
Wanderungsdefizite der Nervenzellen im Großhirn führen zu Einschränkungen der Neuronenschichtung. Geplant und erforderlich sind für die Hirnrinde sechs Schichten, um eine gute, ungestörte Hirnfunktion zu erreichen. Neben groben Migrationsdefekten finden sich diskrete, zufällig entdeckte, herdförmige Veränderungen, die eigentlich für den Menschen unbedeutend bleiben, aber eine Epilepsie auslösen können.
Der Balkenmangel
Die Hauptverbindung zwischen den Hirnhälften mit zahlreichen Nervenbahnen ist der sogenannte Balken. Dieser Balken kann teilweise oder ganz fehlen und manchmal findet sich ein Balkenmangel bei einem Menschen, der problemlos zurechtkommt. Meist zeigen sich verschiedene Störungen und die Hirnfunktion wird beeinträchtigt. Die schwerste Ausprägung des Balkenmangels führt zuverlässig zu schwerer Behinderung: Statt getrennter Flüssigkeitsräume inmitten der beiden Großhirnhälften findet sich ein einzelner zentraler Flüssigkeitsraum mit veränderter Rindenarchitektur darum herum: eine Holoprosencephalie.
Der zu kleine Kopfumfang (Mikrocephalie)
Dieser Befund ist häufig und löst Diagnostik und Verunsicherung aus. Zahlreiche verschiedene Ursachen sind möglich, es wird nach Infektionen gesucht, nach Architekturstörungen im MRT, nach angeborenen Syndromen mittels Genetik. Oft findet sich nichts, das Kind entwickelt sich ausgezeichnet und weitere, gesunde Angehörige haben auch einen kleinen Kopf.
Der zu große Kopfumfang (Makrocephalie)
Auch hier erfolgt Diagnostik, Ultraschall, MRT, Stoffwechseluntersuchungen, Genetik. Manchmal finden sich Familienstammbäume mit großem Kopf, manchmal mit besonderer Kopfform, häufig mit Normalisierungstendenz im Kleinkindalter. Manchmal findet sich ein Hydrocephalus (Wasserkopf), der therapeutisch angegangen werden muss. Entweder es wird zu viel Hirnflüssigkeit produziert oder die Flüssigkeit kann wegen einer Engstelle nicht abfließen oder die Wiederaufnahme der Flüssigkeit ist gestört. Finden sich keine Erweiterungen der Hirnkammern, so spricht man auch vom Megalencephalus, Grund für eine Gendiagnostik. Ein Teil der Kinder mit großem Kopf zeigt eine späte motorische Entwicklung mit Koordinationsmühe, nur manche sind kognitiv auffällig, fast alle erhalten umfänglich Therapie. Wird ein Ventil bei Hydrocephalus erforderlich, so können sich die Kinder trotzdem sehr gut entwickeln. Ventilkomplikationen und begleitende Architekturstörungen erhöhen das Risiko der Entwicklungsstörung. Druckspitzen schädigen rasch den Sehnerv und verlangsamen die Hirnfunktion.
Kind mit vorzeitigem Schädelnahtverschluss (Kraniosynostose)
Beeinträchtigt wird im einfachen Fall die Kopfform, der Schädel kann im Bereich des vorzeitigen Nahtverschlusses nicht ungestört wachsen. Meist ist die Frontalnaht betroffen und es bedarf keiner Therapie. Über jeder vorzeitig verknöcherten Naht findet sich eine deutlich tastbare Knochenleiste. Fehlt die Leiste, gilt die Naht als offen. Bei umfangreichen vorzeitigen Nahtverschlüssen werden wiederholte und komplexe schädel- und gesichtschirurgische Eingriffe nötig. Man findet genetische Ursachen.
Kind mit Schädelasymmetrie
Fast 50 % aller jungen Säuglinge zeigen eine Schädelasymmetrie. Sie kommt besonders oft bei Frühgeborenen vor, öfters bei ruhigen Säuglingen mit niedrigem Muskeltonus und selten beim motorisch aktiven Kind. Sie entsteht vor allem durch Lieblingslagen nach einer Seite (zur Mutter) und lässt sich durch Physiotherapie und Lagerung gut behandeln. Abwarten und Osteopathie ergeben keine guten Ergebnisse, die Helmtherapie ist nach Studiendaten der Krankengymnastik oder Lagerung nicht überlegen. Erstaunlich sind Daten, dass je nach Lieblingsseite später unterschiedliche Teilleistungsstörungen beobachtet werden sollen.
Neurokutane Krankheiten
Haut und Nervensystem entstehen aus gemeinsamen embryonalen Ursprüngen und können gemeinsam krank sein. Die Haut kann auf neurologische Krankheiten hinweisen.
Die Neurofibromatosen
Zeigen sich sechs und mehr Café-au-Lait-Flecke auf der Haut, so gilt die Erkrankung als klinisch gesichert. Ein Gentest sollte zur Absicherung erfolgen, denn die Flecke finden sich auch bei anderen Erkrankungen. Die Neurofibromatose führt zu gutartigen, kleinen Tumoren im Gehirn und Rückenmark, aber auch in anderen Organen und leider auch zu einer erhöhten Rate nicht gutartiger Tumore. Weil die meisten Tumore keine Bedeutung haben, soll kein routinemäßiges MRT mehr zur Kontrolle erfolgen (was unter Mediziner:innen umstritten ist). Außerdem können tumorartige Veränderungen im MRT wieder verschwinden. Indes soll jedes Jahr ein Augenärzt:innentermin mit Gesichtsfelduntersuchung, Netzhaut und Visuskontrolle erfolgen. Dadurch lassen sich hirndruckbedingte Veränderungen am Sehnerv erkennen und eine begleitende Einschränkung des Gesichtsfelds. Zahlreiche internistische und orthopädische Probleme können entstehen. Betroffene Kinder zeigen vermehrt Lernstörungen, nicht selten Epilepsien und vor allem im Erwachsenenalter Gefäß- und Tumorerkrankungen.
Die tuberöse Sklerose
Eine Krankheitsgruppe mit sehr unterschiedlicher Schwere und unterschiedlichem Verlauf vom Zufallsbefund bei gesunden bis zu schwer mehrfachbehinderten Personen mit heftiger Epilepsie und Niereninsuffizienz. Es finden sich weiße Flecke als frühe und typische Hautveränderung, später auch Fibrome und schmetterlingsförmige Veränderungen im Gesicht. Im MRT (hier immer erforderlich) sind typische kleine Knötchen neben den Seitenventrikeln (flüssigkeitsgefüllte Kammern inmitten der Großhirnhälften) zu sehen. Genetisch ist die Krankheit präzise definiert. Zahlreiche Kinder erkranken früh an einem West-Syndrom (BNS-Epilepsie), werden geistig behindert, oft autistisch. Es können sich Tumore entwickeln, die den Abfluss der Hirnflüssigkeit beeinträchtigen, Tumore im Herzen mit Herzinsuffizienz, Veränderungen in den Nieren mit Niereninsuffizienz und Lungenerkrankungen.
Weitere neurokutane Krankheiten zeigen Pigmentstörungen im Gesicht (Sturge-Weber-Syndrom), Fehlbildungen der Blutgefäße und Angiome am Auge (von Hippel Lindau), verschiedene Fehlbildungen der Haut oder Schleimhaut (Naevi) oder blasenbildende Hautveränderungen, begleitet von manchmal schweren Hirnfunktionsstörungen.