Säuglingsgewohnheiten, Verhaltensbesonderheiten und kurzfristige Bewegungsstörungen
Daumenlutschen ist der Prototyp einer liebgewonnenen Marotte, um sich zu trösten, zu beruhigen und in den Schlaf zu finden. Mit zwei Jahren lutschen ca. 25 %, mit fünf Jahren immerhin noch 15 %. Dem steht eine erhebliche Zahl an Säuglingen und Kleinkindern mit Schnullerbindung gegenüber. Beides wird von Zahnärzten, Kieferorthopädinnen und besorgten Eltern irgendwann abgelehnt.
Bis zu 30 % aller Kinder knirschen im Schlaf. Ein Teil der Kinder bewegt sich auch viel im Sinne einer Parasomnie (während der Traumphase kommt es zu teils heftigen motorischen Bewegungen, da die Muskulatur nicht entspannt bleibt) und neigt zum Nachtschreck, also heftigem Schreien aus einem Albtraum heraus. Knirschen wird mit Ängsten in Verbindung gebracht und man soll besonders nett sein zum Kind, zumindest abends. Erfolg versprechender ist Fernsehverbot, aber teils nicht gut durchsetzbar. Glücklicherweise fallen die abgewetzten Milchzähne aus und Knirschen verliert sich oft spontan. Tatsächlich sind Schlafwandeln, Nachtschreck und Knirschen vor allem genetisch bedingt und zumindest ein Elternteil bewegt sich viel im Schlaf, murmelt und macht Lärm.
Haare essen erweist sich als besonders unangenehm, da sich im Magen ein Haarball bilden kann, ein Bezoar. Meist verringert sich das Phänomen entscheidend nach Kurzhaarschnitt (wird als brutale Aktion erlebt).
Nägel kauen ist eine harmlose Gewohnheit, die man einfach ertragen und übersehen kann, ohne Senf und Bosheiten.
Wiederholte stereotype Bewegungsmuster
Wiederholte Bewegungsmuster wie Kopfschlagen, Schaukeln, Händeschütteln, Winken, Hüpfen usw. finden sich im späten Säuglingsalter und im Kleinkindalter. Besonders bedrohlich wirkt das Kopfschlagen, das fast 25 % der älteren Säuglinge und Kleinkinder eine Zeit zeigen. Nach dem fünften Lebensjahr kommt es praktisch nur noch bei Kindern mit Behinderung vor und gerade deshalb machen sich die Eltern viele Sorgen. Stereotype, repetitive Bewegungen zeigen sich vermehrt bei Autismus, sehr stark bei FraX- oder Rettsyndrom, seltenen genetischen Krankheiten.
Jaktationen sind Wälz- und Kopfwendebewegungen zum Einschlafen. Sie galten als Hospitalismuszeichen, inzwischen nicht mehr. Man sollte sie ertragen, eventuell die Wand abpolstern. Sie sind bedeutungslos.
Wutanfälle
Bereits im späten Säuglingsalter erleben viele Eltern, dass ihr liebenswertes Kind sich in heftigen Wutanfällen verlieren kann. Auslöser sind meist Frustration und Enttäuschung. Risikofaktoren sind Müdigkeit und Hunger. Es bewährt sich das Verhalten des Fußballschiedsrichters: Ermahnung, dann Rote Karte mit Auszeit, nach der Auszeit freundliches Versöhnen und unbeeindruckt weiterspielen lassen. Nachgeben vervielfacht Wutanfälle!
Kinder lernen schnell durch Imitation. Impulsive Eltern, die sich gerne aufregen und das offene Wort lieben, erleben manchmal den durchaus vergleichbaren Charakter ihres Kindes als besonders unerträglich.
Das späte Säuglingsalter ergibt erste pädagogische Herausforderungen. Soll der lachende Säugling ins Gesicht schlagen? Soll man ihn begeistert in die prallen Backen beißen? Darf er Essen ausspucken, herumwerfen, auf dem Boden verteilen, dauernd quengeln?
Fremdeln
Die Säuglinge in Großfamilien hüpfen von Arm zu Arm und fremdeln bei freundlichem Gesicht einfach nicht. Andere verschmähen den bemühten Vater und bleiben auf dem Arm der Mutter beim Duschen und auf dem Klo. Die symbiotische Mutter-Kind-Dyade führt erst zu einer Aufwertung der Mutterschaft und dann zu sehr gereizten Erschöpfungsreaktionen, ungerecht und schuldbesetzt. Frühes Fremdeln ist gut, zeigt den klugen Geist, oft schon nach wenigen Monaten; heftiges Fremdeln geht auch vorbei. Mütter, die immer „ich bin da“ rufen und das Kind vor der bösen Welt schützen, haben viel zu tun. Manchmal ergeben sich wertvolle Gespräche im Verlauf über die eigene Kindheit, Lebenssinn und Kinderwunsch, Partnerschaft und Familienbild. Entscheidend ist die Vermittlung einer gleichaltrigen Sandkastenliebe. Jede dieser Mütter erhält den Auftrag, ein gegengeschlechtliches Kind zu suchen und zu besuchen, um schrittweise den eigenen „Klammeraffen“ vom Baum zu holen – und das gelingt erstaunlich gut, durchaus fast immer.
Kurzfristige Bewegungsstörungen
paroxysmaler Torticollis: morgens ohne fassbare Ursache deutliche Kopfschräghaltung, unruhige Augenbewegungen, schmerzlos, dauert Minuten bis Stunden, dazwischen wird das Kind ganz gesund → mögliche Ursache: Migräne in der Familie
Sandifer-Syndrom: Nach dem Essen kommt es zu schmerzhaftem Reflux mit Überstreckung, kurzer Apnoe und im Verlauf Kopfwendebewegungen und dystonen Überstreckungen. → Diagnose kann schwerfallen
Rumination: wiederholtes, teils häufiges Hochwürgen und Kauen von Nahrung, teils mit Erbrechen → konsequente Verhaltenstherapie, schwere Verläufe möglich
Shuddering-Attacks: kurze Schauderattacken (unter zwei Sekunden), oft beim Wickeln, vor allem an Kopf und Schultern, wie ein kurzes Erschauern bei Kälte; das Bewusstsein bleibt erhalten, das Kind unbeeindruckt → Phänomen verschwindet nach dem ersten Jahr.
Abruptes Absinkenlassen des Kopfes: im Alter von drei bis sechs Monaten → kommt oft vor und verliert sich rasch wieder
Kinnzittern: meist familiär gehäuft und nur in kurzen Episoden → verliert sich
paroxysmaler tonischer Aufwärtsblick: früh beginnend, ab dem vierten Monat, vor allem sitzend beim Essen; die Augen werden nach oben verdreht, teilweise Augenzittern, kurze Kopfbewegungen → hirnorganische Störungen möglich, deshalb wird Diagnostik sinnvoll, zumindest nachdem sich weitere neurologische Auffälligkeiten zeigen
Spasmus nutans: Augenzittern und Kopfnick- oder Drehbewegungen (meist bei Kindern mit Entwicklungsstörungen) → wird spontan gut
okulomotorische Apraxie: Kopfwendung statt Seitwärtsblick → tritt nicht isoliert auf (Zeichen für eine Behinderung beim Kind), komplexe genetische Diagnostik erforderlich (z. B. Cogan-Syndrom, Ataxia teleangiektatika)
tanzende Augen (Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom): die Augen irren in verschiedensten Richtungen ungezielt umher → Neuroblastom-Diagnostik mittels Vanillinmandelsäure-Bestimmung im Urin dringlich
alternierende Hemiplegie: schwere Lähmungen ab frühem Säuglingsalter, seitwechselnd schlaffe Extremitäten, daneben Anfallsformen mit Zuckungen und wurmartigen Bewegungen, auch ungewöhnliche Augenbewegungen → Die genetische Ursache ist präzise bekannt, komplexe Therapie, schwerer Verlauf, führt zur Mehrfachbehinderung.
paroxysmale Dyskinesie: betrifft ältere Säuglinge und Kleinkinder, Stunden bis Tage choreatische Bewegungsstörung (unwillkürlich drehende, schleudernde und fuchtelnde Arm- und Beinbewegungen), dazwischen unauffällig → genetische Ursache, keine fassbare Erkrankung oder Schädigung des Gehirns, günstiger Verlauf
Bezüglich der anhaltenden Bewegungsstörungen verweisen wir auf das Neurologiekapitel B 15.