Vorwort

Neugeborene und Säuglinge

Gesundheitsprobleme bei Kindern nach dem Säuglingsalter

Behinderung, Erziehung, Förderung, Rehabilitation und ärztliches Handeln

a

b

c

d

e

f

g

h

i

k

l

m

n

o

p

q

r

s

t

u

v

w

z

Behinderung, Erziehung, Förderung, Rehabilitation und ärztliches Handeln

Ärztliches Handeln und sozialmedizinische Grundlagen

Ärztliches Handeln ist meist weder eindeutig richtig noch eindeutig falsch, es entspringt vielmehr einer Abwägungsentscheidung. Durch Befragung, Untersuchung und technische Untersuchungen werden Argumente gesammelt, die bestenfalls eine Krankheit sehr wahrscheinlich werden lassen. Einzelne Laborwerte, auf die wir uns stützen müssen, können jedoch falsch sein. Streptokokkentests können positiv sein, weil etliche Kinder Streptokokken chronisch im Rachen beherbergen, und eben nicht, weil sie Angina haben und krank sind.

Die Therapie eines Kindes bedarf der Vereinbarung mit Kind, Eltern oder Erziehungsberechtigten. Es ist nicht sinnvoll, gegen den Willen von Eltern oder Kind eine Maßnahme festzulegen – die Erfolgsaussichten werden im ambulanten Rahmen gering sein. Wissenschaftlich nennt sich dies kooperative Vereinbarungskultur. Die leitliniengerechte Therapie auf dem Boden der wissenschaftlichen Evidenz ist nicht immer das Ergebnis dieser individuellen Vereinbarung.

Bleibt die Diagnose unklar, kann bzw. muss abgewartet und kontrolliert werden mit dem Risiko, erst später eine notwendige Therapie zu beginnen. Öfters lassen sich Krankheiten initial nicht sicher diagnostizieren. Manchmal erscheint das Kind zu krank, die Mutter zu erschöpft, das Bauchgefühl zu alarmiert, um zu warten. Wir geben dann „blind“ z. B. Antibiotika oder weisen in die Klinik ein. Manchmal zu Recht und manchmal nicht. Ist die Diagnose gesichert, so bleibt der Verlauf abzuwarten. Ein banaler Virusinfekt kann zur schweren Lungenentzündung führen, ein leicht beginnender Durchfall zur Austrocknung und Infusionspflicht. Es ist oft nicht möglich, zu Beginn einer Krankheit den Verlauf sicher abzuschätzen.

Die Reaktion von Kindern auf Krankheiten ist sehr unterschiedlich. Kleinkinder können trotz beginnender Bauchfellentzündung behaupten, keine Schmerzen zu haben, weil sie nicht ins Krankenhaus wollen. Säuglinge reagieren anders als Kleinkinder und Neugeborene wieder anders. Eltern können nach zahlreichen Asthmaanfällen ihres Kindes den lebensbedrohlichen Anfall zu spät vorstellen. Will ein Chirurg nur ganz sichere Fälle von Blinddarmentzündung (Appendizitis) operieren, so wird er manchmal spät operieren – eventuell zu spät. Will eine Chirurgin auf keinen Fall auch nur eine Appendizitis übersehen, so wird sie etliche Patient:innen ohne tatsächliche Appendizitis operieren. Klug handelt, wer die Mitte wählt. Wenn schon Ärzt:innen es immer wieder im Nachhinein hätten anders machen sollen, um wie viel schwerer haben es dann nicht medizinisch ausgebildete Eltern, zudem beim eigenen Kind, das sie emotional gefangen nimmt.

Echte Fehler im ärztlichen Tun sind häufig: die Mutter unglücklich befragt, das Kind zu schnell untersucht, eine wichtige Laboruntersuchung unterlassen, viele Dinge nicht aufgeschrieben, falsche Impfung, klinische Zeichen übersehen. Selbst tüchtige Ärzt:innen machen Fehler. Die meisten Eltern haben dafür größtes Verständnis, denn im Alltag mit ihrem Kind unterlaufen ihnen ebenfalls häufig Fehler. Wer mit Kindern umgeht, wird schuldig – und wir müssen nicht nur lernen, Fehler zu vermeiden, sondern auch Schuld zu tragen. Das kann sehr schwer sein. Für zahlreiche junge Ärzt:innen ein wichtiges Argument, um nach dem Studium doch eine patient:innenferne Tätigkeit anzunehmen.

Die aktuelle Vergütung über Pauschalen belohnt die „Nichtleistung“. Wer also gewissenhaft untersucht, technisch kontrolliert und im Zweifelsfall wiedervorstellt, verdient schlecht. Wer chronisch kranke Kinder begleitet, erwirtschaftet möglicherweise Defizite. Wer viel behandelt, erhält Regressdrohungen und bezahlt nicht selten empfindliche Strafen z. B. für Logopädie. Deutschland wollte sich für die Globalisierung fit machen und die Lohnnebenkosten senken. Die Strategie, an der Lebensvorsorge der Bürger:innen zu sparen, hat einen Preis und bedroht nicht nur Einzelne, sondern den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Vorteil von Pauschalen und Leistungsobergrenzen ist die Planbarkeit der Gesundheitskosten im Voraus und besonders wichtig waren Politik und Gesundheitskonzernen identische Leistungsbausteine für konfektionierte handhelbare Produkte. Vorteil der frei verhandelten Entgelttabellen ist auch die Leistungssteuerung durch Politik und Kassen über attraktive (Kardiologie, Orthopädie) oder unattraktive (Diabetes, Rheuma, Gastroenterologie, Kinderheilkunde) Preisgestaltungen.

Neben der Pauschalierung der Medizin in mehr oder weniger kostendeckende Vergütungsbausteine wurden die meisten Medikamente nach dem geringsten Preis eines Anbieters ausgewählt. Die nachfolgenden preisbedingten Medikamentenwechsel sind für die Kinder nicht folgenlos, sondern für ihre Gesundheit oft kritisch. Entgegen mancher Hoffnung hat die neue Struktur der Vergütung einen direkten Einfluss auf die Kultur in der Medizin ergeben: Ökonomie statt ärztliche Rechtschaffenheit.

Für junge Eltern ist das Internet der ständige Begleiter. Daneben haben sich Eltern chronisch kranker Kinder global vernetzt. Besonders bei sehr seltenen Krankheiten ergeben diese Foren wichtige und fundierte Aussagen über neue Therapie- und Diagnosemöglichkeiten. Manche Selbsthilfegruppe bezahlt inzwischen wichtige Forschung und wird fortlaufend über neue Entwicklungen informiert. Manche Selbsthilfegruppe ist auch politisch gut vernetzt. Neben Licht ist auch Schatten. Unseriöse Webseiten nutzen die Not von Eltern und verkaufen Heilsversprechen aller Art. Viele Eltern haben den Mut, mit kuriosen Internetvorschlägen in die Praxis zu kommen.

Kliniken, die eine ganze Familie aufgreifen, und alle für sich sehen und verstehen wollen, gibt es fast nicht. Für onkologische Kinder und schwer herzkranke Kinder gibt es die familienorientierte Rehabilitation: zwei Häuser in Baden-Württemberg, noch nicht mal zehn in ganz Deutschland. Für alle anderen sehr belasteten Familien chronisch kranker Kinder findet sich meines Wissens nur ein qualifiziertes Haus in Bayern. Wichtig ist die Gesundheitsförderung bei den Geschwisterkindern schwerbehinderter Kinder.

Bildung, Einkommen und soziale Lage der Eltern haben statistisch gesehen einen erheblichen Einfluss auf Entwicklung, Befinden und Erfolg der Kinder. Entscheidender Parameter für eine ungünstige Entwicklung dürfte die soziale Entwürdigung sein. Diskriminierung, Rassismus und soziale Abwertung der Eltern beschädigen die Entwicklung der Kinder. Gute Integration und geringe soziale Barrieren lassen sich an der Kindesentwicklung ablesen.

Nicht nur im Großen, auch im Kleinen in einer Familie ist die persönliche Entwürdigung, die Entehrung und Demütigung der Schlüssel zum Verständnis von Familienkatastrophen. Nicht umsonst ist die Würde des Menschen unantastbar. Wird ein stolzes Kind gedemütigt, z. B. vor der Klasse, vor Freund:innen, in der Familie, droht eine unheilvolle Entwicklung. Stolze Kinder können in der oppositionellen Verweigerung einen konsequenten und unnachgiebigen Kampf gegen abgelehnte Erwachsene führen. Deshalb sollten Duelle mit Kindern unterbleiben nach dem Motto: „Wir haben uns lieb, wir wollen uns nicht wehtun, wir besprechen das später.“ Konflikte zu vertagen, ist oft der erste Schritt zur Lösung. Wählen Sie dann einen guten Besprechungsrahmen und finden Sie eine verbindende Lösung.